In tiefster Nacht wurde Lene von ihrem kleinen Bruder geweckt. "Ich hab komische Geräusche gehört," flüsterte er. Das Mondlicht schien nur schwach durch einen Schlitz in dem schweren Vorhang ihres Zimmers. Die Laternen auf der Straße waren schon längst gelöscht und so dachte Lene, dass Jolle nur schlecht geträumt hatte und sich nun im Dunkeln fürchtete. Lene versuchte einen Moment lang wach zu sein und in die Stille zu lauschen, aber als sie nichts hörte, außer Mamas gleichmäßigen Atem, nahm sie Jolle in den Arm und meinte, dass es wohl nur wieder der Klabautermann wäre, der im Haus herumliefe. Und so beruhigte er sich wieder und beide schliefen ein.

Ihre Eltern hatten sie wohl irgendwann, nachdem sie eingeschlafen waren, in ihre Koje gebracht. Vielleicht hat ihre Mutter noch eine Weile an ihrem Bett gesessen und ist über die Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, müde geworden. Vielleicht wollte sie aber auch nur wieder mal eine Nacht ganz nah bei ihren Kindern sein. Jedenfalls schlief auch sie im gleichen Zimmer, wenn auch in der Hängematte, die quer über dem Fußende des Kinderbettes gespannt war.

Als es am nächsten Morgen hell wurde und selbst die dicken Vorhänge an den Fenstern das Tageslicht nicht mehr verstecken konnten, schallte ein lauter Schrei aus dem Plumpsklo des kleinen schiefen Haus am Hafenende.

Was mag da geschehen sein?

"MAAAAAMI I I I I I, das Klopapier ist alle." Lene sprang aus dem Bett, um ihrem Bruder zu Hilfe zu kommen, der sich keine neue Rolle aus dem obersten Wandschrank nehmen konnte. Mama wollte sie schlafen lassen. Papa könne ja auch das Frühstück machen. Nach dem sie Jolle versorgt hatte, schlug sie ihm vor, Papa zu wecken. Sie nahmen den Putzeimer aus der Ecke, füllten ihn zur Hälfte mit kaltem Wasser – gerade so, wie sie ihn noch heben konnten – und stiegen die Treppe runter bis zu seinem Zimmer.

Was meint ihr, haben die beiden vor?

Die Tür stand offen. Sie schlichen auf Zehenspitzen (soweit das mit dem Eimer Wasser möglich war,) in das dunkle Zimmer. Aber den alten Pirat sahen sie nicht in seinem Bett liegen. "Schade um den Spaß,…"sagte Lene, "…gehen wir halt schauen, was er uns leckeres zum Frühstück zubereitet hat." Aber auch in der Küche war er nicht. Stattdessen sah es hier aus wie bei den Hottentotten. Alle Kisten und Schranke waren geöffnet und die vielen Sachen daraus lagen wild auf dem Boden herum. Dann fiel ihr Blick auf das große rotbefleckte Entermesser, mit dem jemand grob einen Fetzen Papier an der Küchentür befestigt hatte.

Das Rote war Kirschmarmelade. Jemand musste sich noch kurz zuvor ein Brot geschmiert haben. Lene riss den Zettel ab und las ihn vor. Auf ihm stand in krotzeligen Buchstaben:

Wir haben dainen Man endfürt.
Lösegelt à Der Schatz fon Nauduhsin.
Übergabe: heute mittag auf meinem Schief – unt keine dumen Faksen,

gez. Old Knife Henry

"Das ist ja doof," fand Jolle, jetzt muss Mama auch wieder weg und keiner macht uns das Frühstück!" Dieser Gedanke ließ auch Lene aufschrecken, und so liefen sie beide schnell nach oben, um endlich ihre Mama zu wecken. Glaubt mir, es war kein schönes Erwachen für Piratenmama Mara, als sie erfuhr, dass Old Knife Henry ihren Mann entführt hatte. Eine halbe Stunde schimpfte sie Berge der übelsten Flüche auf diesen Schuft. Die Beulenpest war da noch eins der harmlosen Sachen, die er bekommen sollte. Doch dann beruhigte sie sich und sagte:" Gut! Sie wollen, dass ich mich für den Schatz oder Papa entscheide, …

…aber, ich entscheide mich für den Schatz…

Wie bitte?

… ja, ich entscheide mich für den Schatz …

und unsern Papa. Und ich habe auch schon eine Idee, wie wir das anstellen können."

"Wir …" dachte Lene, "hat sie wirklich ‚wir‘ gesagt?" Ja das hatte sie. Und was hätte sie auch sonst sagen sollen? Sie konnte ja die beiden nicht einfach allein lassen oder bei der Nachbarin abgeben und sagen "Entschuldigung, können Sie vielleicht gerade mal auf meine Kinder aufpassen. Ich muss nämlich meinen Mann aus den Händen von Piraten befreien." Nein, sie musste sie mitnehmen. Sie kramte schnell ein paar Sachen zusammen und nahm die Kinder an der Hand. Dann gingen Sie – ohne Frühstück, einzig und allein gestärkt von Tatendrang – zur Tür hinaus.

Es war einer dieser Tage, an denen der Nebel gar nicht mehr zu verschwinden gedachte. Die Luft war so trüb, dass sie den Hafen am Ende der Gasse nicht mehr sehen konnten. Als sie angekommen waren lagen da ca. 20 Piratenschiffe eng aneinander gepackt, während immer noch weitere Schiffe von der See her versuchten, in das Hafenbecken zu gelangen. Der Nebel trieb sie alle an Land. Jeder wollte schnell noch einen günstigen Anlegeplatz bekommen. Ganz vorne, in erster Reihe, lag Käpn’n Old Knife Henrys Fregatte – zugeparkt durch einen mächtigen Viermaster. Es herrschte gerade Hochsaison auf Gran Pirata, dem Seeräuber-Eiland. Für Mara kamen diese Umstände günstig. Sie hatte gestern die Black Mary vor dem Hafen ankern lassen und war ohne die Besatzung mit dem Beiboot an Land gekommen.

Sie gingen jetzt schnurstracks auf Old Knife Henrys Schiff zu und als sie davor standen, pfiff Mara einmal laut durch die Finger. "He, ihr da!" rief sie den Piraten auf dem Schiff zu, "wenn ihr mir nicht sofort euren alten Knochen von Henry an Deck ruft, könnt ihr den Seejungfrauen auf dem Meeresgrund beim Haarewaschen zusehn!" Eiligst taten sich die Piraten daran, ihren Käpt’n zu rufen und es dauerte nur ganze 2 Minuten, bis sie Old Knife Henry zu Gesicht bekamen.

Was meint ihr, was jetzt los war?

"Gib sofort meinen Mann raus, du mistige Feuerquallennase, oder ich säge dir dein Schiff in 2 Teile – aber der Länge nach!" fauchte Mara ihn an. "Rück du erst den Schatz raus, du bartloses Seeungeheuer!" brüllte er zurück. Immer lauter wurde das Schimpfen und Fluchen, wobei nicht klar war, wer von den beiden die schlimmeren Ausdrücke auf Lager hatte. Die Piraten auf den anderen Schiffen duckten sich und hielten sich aus dem Wortgefecht von Mara und Old Knife raus, – ja viele wagten es noch nicht mal, in Richtung der beiden zu schauen. Jolle fand, es stünde 5 : 3 für Mama, aber Lene gestand auch dem alten Seerüber einige gelungenen Flüche zu. Irgendwann ließen die Schimpfwörter nach und es wurde sich auf einen Austausch per Beiboot vor der Hafeneinfahrt geeinigt. "Du lieferst den Schatz und ich bring deinen Mann. Du hast Zeit bis 13 Uhr.

Mara, Lene und Jolle bestiegen darauf hin ihr Ruderboot und verschwanden in der nebligen Hafenbucht. Schon bald kamen sie bei der Black Mary an. Mara gab den Befehl, die Kisten mit dem Schatz, in einem Fischernetz eingepackt auf das Beiboot zu laden und mit einem sehr langen Tau zu versehen. Das andere Ende des Strickes wurde an der Reeling des Schiffes befestigt. Dann gab sie das Kommando zum Ankerlichten und Schiffklarmachen, stieg wieder in das kleine Boot. Dort schlug sie mit einer Axt ein kleines Loch in den Boden und verstopfte es gleich wieder mit einem Goldbecher aus dem Schatz. Sie setzte sich, nahm die Paddel zur Hand und ruderte ein kurzes Stück in Richtung Hafen, gerade soweit, dass die Black Mary im Nebel verschwand.

Wisst ihr, was Mara plant?

Sie wartete eine ganze Weile, doch dann ertönte endlich die Hafenglocke. Sie schlug langsam und 13 mal. Aus dem Nebel sah sie nun zwischen den schwachen Umrissen der großen Schiffe ein kleines Ruderboot auf sie zukommen. An Bord erkannte sie einen dürren Piraten, der so aussah, als wenn er wochenlang nur die Reste von den Knochen hatte abnagen dürfen, Old Knife Henry – und ihren Mann, dessen Arme mit einem langen Strick am Körper gefesselt waren. Dass er so noch atmen konnte, war schon ein Wunder. Auf seiner Schulter saß mit verbundenem Schnabel ein Papagei.

"Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, mach ich deinen Hintern mit einer netten Haifischfamilie bekannt, Old Henry" brüllte Mara, als sie das sah. Gleich darauf hallten wieder gegenseitige Schimpftiraden bis in den Hafen hinein. Als beide Boote endlich nebeneinander lagen, kamen sie überein, dass es besser wäre, den Schatz nicht durch ein Umladen zu gefährden. Das gleiche galt auch für den Gefangenen mitsamt Papagei. Damit hatte Mara natürlich gerechnet. Sie löste unbemerkt den Goldbecher im Rumpf ihres Bootes ein wenig und zog das Netz mit dem Schatz ein darüber. Dann sprang sie leichtfüßig auf das andere Boot zu ihrem Mann. Gleichzeitig wechselten Old Henry und sein Rudermann in das Boot, in dem der Schatz lag. Schnell stießen sie sich mit dem Paddeln ab, – nicht ohne sich noch einige Beleidigungen hinterher zu brüllen. Nach kurzer Fahrt konnten sie sich im Nebel nicht mehr sehen. Aber dafür konnte Mara schon die Black Mary sehen. Sie gab einen lauten Pfiff von sich und legte mit dem Boot an. Schnell löste sie die Fesseln von ihrem Mann und dem Papagei, der gleich mit Rufen anfing: "AAAAAAAAAngriff, entert den Kahn!"

"Den Schatz einholen" gab Mara zu Befehl, während die Black Mary in den Wind drehte. Dann gingen sie und ihr Mann an Bord. Lene und Jolle kletterten aus den Wanten und sprangen ihnen an den Hals. "Mama, Papa, wir wollen endlich Frühstück haben "riefen sie.

Die 4 frühstückten an diesem nebligen Nachmittag in der Kapitänskajüte (das ist das große, hochgelegene Zimmer mit den schönen Fenstern hinten am Schiff) und segelten mit Mann und Maus in Lene und Jolles erstes Abenteuer auf hoher See.

Ach so, ihr fragt euch bestimmt, wofür der Goldbecher, das Netz und das lange Seil waren -und was mit Old Knife Henry und dem Schatz passierte. Ihr erinnert euch, dass Mara Piratenmama den Befehl gab, den Schatz einzuholen. Als sie das tat, passierte folgendes:

Die Black Mary begann von Gran Pirate fort zu segeln, 10 Piraten an Bord zogen außerdem zugleich an dem Seil. Das Seil zog sich stramm und tauchte aus dem Wasser auf … bis es an dem Fischernetz zog, … in dem der Schatz eingewickelt war.

Das führte dazu, dass da das kleine Ruderboot, das auf dem Weg in den Hafen war, plötzlich ruckartig zurückgezogen wurde.

Old Henry, der mit dem Rücken zu den Kisten saß, wurde durch den Ruck nach vorne geworfen und knallte genau auf den klapprigen Rudermann … der Becher in dem Leck am Boden löste sich … und das Boot lief voll Wasser, während es weiter von Maras Schiff mitgezogen wurde.

Bald wurde der Schatz mit einem weiteren Ruck aus dem Boot gezogen und verschwand rasend schnell in Richtung Black Mary, wo er an Deck gehoben wurde. Old Henrys Paddelboot lief noch vor dem Hafen voll Wasser und kenterte. Der alte Haudegen und sein Kumpane mussten vorbei an den großen Schiffen in den Hafen schwimmen, und als sie endlich auf ihrem Piratenschiff ankamen, konnten sie nicht ablegen, weil sie zugeparkt waren. Käpt’n Old Knife Henry war an diesem Tag nicht mehr ansprechbar. Mara Piratenmama war ihm schon wieder mit dem Schatz der Naodusin entkommen.

geschrieben von Burkhard Wilhelm